«Welche (kunst-)historischen Artefakte, touristischen Sehenswürdigkeiten und Geschichten eignen sich für eine Augmentierung (Anreicherung) auf dem Smartphone?»
Etwas sichtbar machen, was in der realen Wirklichkeit nicht über einen oder sogar mehrere menschliche Sinne erfahrbar ist – das ist eines der Ziele der Technologie rund um Augmented Reality. Folglich sind insbesondere (kunst-)historische Artefakte geeignet für eine Augmentierung auf dem Smartphone, welche am Ort des Betrachtens nicht materiell vorhanden sind. Die Technik wird dadurch als An- und Bereicherung des physischen Raums angesehen, in dem sich der betrachtende Mensch befindet. Gerade vorhandenes immaterielles Kulturerbe kann mittels dieser Technologie angereichert werden, indem nicht vorhandenes materielles Kulturerbe digital ergänzt wird (wie bspw. die Augmentierung eines berühmtes Kunstwerk, welches sich nicht am Ort der Entstehung, sondern in einem geografisch entfernten Museum befindet).
Kultur ist der neue Schnee
Insbesondere touristische Sehenswürdigkeiten sind prädestiniert für eine Augmentierung, explizit solche, welche eine für den jeweiligen Standort signifikante Bedeutung haben. Damit können ortsspezifische Ereignisse durch das digital unterstützte Erzählen von Geschichten zum Leben erweckt und sichtbar gemacht werden. Letzteres kann identitätsstiftend für eine Gemeinde wirken, sowohl für Ein-, aber auch Zweitheimische sowie Gäste. Vielfach verfallen gerade Denkmäler oder historische Monumente dem zeitlichen Vergessen und Verstauben buchstäblich; ein Aufmerksam machen dieser manifestierten Geschichten durch eine augmentierte Wiederbelebung könnte positiven Einfluss auf die touristische Vermarktung einer Destination ausüben. Dies gerade in Zeiten von Schneemangel, wo es zunehmend wichtig wird, Alternativen zum Wintersport zu formulieren und mittel- sowie langfristig zu implementieren. Die Förderung des Kulturtourismus im Kanton Graubünden ist dementsprechend eine vielversprechende Möglichkeit, zum einen der Diversifikation Anschub zu verleihen und zum anderen, der mannigfaltigen Perspektiven des einzigen dreisprachigen Kantons der Schweiz gerecht zu werden.
Kurz und bündig
Beim Schreiben der Geschichten für eine Augmentierung auf dem Smartphone muss speziell darauf geachtet werden, dass die Sätze für eine gesprochene Sprache geeignet sind und somit für die Hörenden verständlich bleiben (im Falle des Forschungsprojekts «Augmented Swiss Heritage» mittels AI-generierter Stimme). Dementsprechend dürfen die Sätze nicht zu kompliziert und die gewählten Worte, wenn möglich, keine Fachbegriffe sein. Zusätzlich dazu sollte auf eine Ausgewogenheit im Bezug zu visuellen und auditiven Inhalten geachtet werden. Diese müssen zudem während des Betrachtens synchron laufen, um eine irritierende Verzerrung zwischen den jeweiligen augmentierten Inhalten zu vermeiden.
Fokus auf den Kurationsprozess
Der Kurationsprozess beginnt mit der Frage, welche Inhalte sich für eine Augmentierung eignen. In einem ersten Schritt muss/müssen somit die Zielgruppe(n) definiert werden, welche durch die Augmented Reality App angesprochen werden soll/en. Die Definition der Zielgruppen erfolgt bestenfalls in einem Plenum ausgewählter und mit dem Thema vertrauter Personen. In einem iterativen Ablauf sollten die verschiedenen Personas kreiert sowie stets kritisch hinterfragt werden. (siehe 3.2)
Stand der Digitalisierung historischer Artefakte
Die Basis, oder das Rohmaterial, für die Kreation von digitalen Inhalten, basiert häufig auf historischen Artefakten. Die Annahme, dass heutzutage fast alles digitalisiert archiviert ist, ist falsch. Eine grosse Schwierigkeit war das Ausfindig machen von Bildmaterial, bspw. in Form von Original-Artefakten. Letztere unterliegen spezifischen Anforderungen hinsichtlich deren digitaler Langzeitarchivierung. Des Weiteren ist nicht jedes digital gespeicherte Bild in situ archivwürdig, nur weil dessen Format als ‚archivwürdig‘ eingestuft wird. Vielmehr geht es um qualitative Merkmale, welche sich messen lassen, um die geforderte Archivqualität zweifelsfrei, transparent und nachvollziehbar zu überprüfen. Dies sollte sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft gültig sein.
Kuration und Technik – zwei Hörner derselben Ziege
In einem nächsten Schritt erfolgte eine Grobsichtung des Materials, welches kuratiert werden musste. Welche Artefakte gibt es? Welche eignen sich für eine Augmentierung? Welche eher nicht? An dieser Stelle empfiehlt es sich für die kuratierende Person, stets in engem Kontakt mit den Technik-Verantwortlichen zu sein, da nur so schon zu Beginn klar gemacht werden kann, was technisch möglich ist und was nicht. Letzteres hängt auch mit dem Budget zusammen und muss daher sorgfältig kontrolliert werden. Eine wichtige Erkenntnis aus dem Projekt «Augmented Swiss Heritage» ist demnach, dass der Austausch zwischen derjenigen Person, welche für die Kuration und derjenigen, welche für die Technik zuständig ist, höchste Priorität hat. Nur so kann gewährleistet werden, dass effizient gearbeitet, aber auch transparent kommuniziert wird. Dies ist vor allem dann besonders wichtig, wenn ein (privater) Auftraggeber im Spiel ist und Resultate erwartet, die a) den Vorstellungen entsprechen und b) den Budgetrahmen nicht sprengen. Es hat sich gezeigt, dass die Ideen mannigfaltig waren und auch von der Komplexität her ein gewisses Volumen hatten, die Technik jedoch je nach finanziellen Mitteln diesen Vorstellungen nicht immer gerecht werden konnte.
Folglich ist es zentral, dass sich die kuratierende Person mit der Zeit Technik-Know-how aneignet und ebenso vice versa, die Technik-Spezialisten ein Gefühl für die zu augmentierenden Inhalte erhalten. Damit wird ein gegenseitiges Arbeitsverständnis entwickelt, was schlussendlich dem gesamten Projekt dienlich ist und im Idealfall Synergien provoziert. Sonst werden unrealistische, inkorrekte Vorstellungen und Erwartungen während der Konzeption entstehen, die Kommunikation wird erschwert, und das volle kreative Potenzial kann nicht entfaltet werden. Sobald die Frage nach der technischen Machbarkeit eindeutig geklärt ist, kann der Inhalt konzipiert werden. Dies nach dem berühmten Design-Leitsatz «form follows function» – in einem Augmented Reality Kontext bildet die Technik demnach die Form, welcher sich der Inhalt anpassen muss. Dies bildet die Basis für jegliche zu augmentierende Artefakte. Besonders geeignet sind demnach Artefakte, welche den technischen Machbarkeitsrahmen nicht übersteigen. Inhaltlich gesehen eignen sich besonders Artefakte, welche zu einem emotionalen Mehrwert beitragen, welcher ohne Augmentierung nicht stattgefunden hätte (ideales Beispiel: sprechendes Portrait von Erna Schilling, gemalt von Ernst Ludwig Kirchner):
Jede Idee, egal wie gut, muss frühzeitig in der realen Umgebung auf Machbarkeit geprüft werden. Die Realisierbarkeit kann von vielen Faktoren be- oder sogar verhindert werden. Der physische Standort für eine Sehenswürdigkeit muss gut überlegt werden. Er soll in angemessener Entfernung von grossen Menschenströmen oder -sammlungen liegen. So wurde die Sehenswürdigkeit «Bolgenlift» zwar vor dem Häuschen des Bolgenlifts platziert, aber nicht am Ende der Piste und auch nicht beim Drehtor zum Skilift. Der Standort soll unter verschiedenen Wetterbedingungen gut zugänglich sein, idealerweise jederzeit öffentlich begehbar sein. Ist die Sehenswürdigkeit an bestimmte Öffnungszeiten gebunden, so muss dies in der App klar kommuniziert werden. Ein Standort darf nicht unter Umständen gesperrt, abgedeckt oder bedeckt sein. Beispiele davon sind: Schnee, üppiges Laub im Sommer, Terrainumnutzung wie Fussballfeld im Sommer bzw. Eisbahn im Winter. Die nachfolgenden Fragen innerhalb der Unterkapitel formen eine Checkliste.
Checkliste
Die Sehenswürdigkeit «Davos im Sommer» zeigt eine potenzielle Schwierigkeit, ein Artefakt an der Stelle zu augmentieren, wo es entstand. Kirchner malte «Davos im Sommer» (auch «Davos mit Kirche») im Jahre 1925. Die ursprüngliche Idee war, die Besuchenden an den Standort zu führen, wo Kirchner das Gemälde malte, um so den Vergleich zwischen expressionistischem Ausdruck und erfahrbarer Realität zu ermöglichen. Knapp hundert Jahre später hat sich das Stadtbild einschneidend verändert. Niemand weiss genau, wo Kirchner seine Staffelei hinstellte, als er zu malen begann. Ein mehrstündiges Scouting ergab den ungefähren Standort, doch es wurde klar, dass die genaue Perspektive vom Gemälde nicht in der App eingenommen werden konnte. Zudem war die Frage, woran der Anker (siehe Kap. 4.1) befestigt werden sollte. Schlussendlich wurde «Davos im Sommer» auf der Dachterrasse des Waldhaus Hotels positioniert und an einer Mauer verankert, eine Position, die immerhin die gleiche Weitsicht bietet.
Davos im Sommer (Kirchner Museum) |
Perspektive Davos im Sommer – annähernd, heute |
Perspektive Davos im Sommer – annähernd, heute |
Finaler Standort |
Der erste Bügellift der Welt, der Bolgenlift, ist eine schweizerische Erfindung und steht in Davos. Zeichnungen von Ernst Ludwig Kirchner und L. Brendel gaben die Inspiration für die Animation dieser Sehenswürdigkeit. Die stilisierten Skiläuferinnen und Skispringer wurden nachgezeichnet und animiert, allmählich mehr Skiläufer und Skiläuferinnen bevölkern die Piste unterhalb des Bolgenlifts, um den unmittelbaren Erfolg zu veranschaulichen – nach der ersten Saison hatte der Bolgenlift bereits 70’000 Skifahrer transportiert. Diese Sehenswürdigkeit macht sowohl inhaltlich als auch visuell nur bei beschneiter Piste Sinn. Es gilt zu überlegen, ob eine Sehenswürdigkeit ganzjährig in der App verfügbar sein soll, oder nur während eines gewissen Zeitraums.
Bolgenlift im Sommer |
Bolgenlift im Sommer |
«Skisprung» (1936) Ernst Ludwig Kirchner |
«Skispringen auf der Bolgenschanze» L. Brendel |
Serie von fünf Figuren
Transparente Animation (Standbild) |
Die Sehenswürdigkeiten der Route «Schatzalp» sind nur während den Betriebszeiten der Schatzalpbahn zu erreichen. In den Zwischensaisons fällt diese Route aus. Es gilt eine Ausgewogenheit in den Sehenswürdigkeiten sicher zu stellen, abgestimmt auf die Besucherströme in der Destination, sodass das Angebot stets attraktiv ist.
Die Sehenswürdigkeit «Spektrograf», ein Instrument zur Messung der Infrarotstrahlung, befindet sich im Physikalisch-Meteorologischen Observatorium Davos. Das Forschungsinstitut ist nicht öffentlich zugänglich. Das Gebäude mit dem glänzenden Dach, ehemaliges Schulhaus und Weltstrahlungszentrum, ist ein bedeutungsvoller Standort. Auf dem Vorderplatz eröffnet sich ein wunderschöner Weitblick, das Alpengold Hotel, umgangssprachlich das «Goldene Ei» genannt, inbegriffen. Das heutige Alpengold Hotel ist das ehemalige Basler Sanatorium und bildet ein architektonisches Highlight von Davos. Der Versuch das Artefakt, der animierte Spektrograf, am Alpengold Hotel in der Ferne zu verankern, scheiterte kläglich. Die Distanz war zu gross, wodurch das Artefakt zu einem kaum sichtbaren Miniaturbild verkam.
Die einzige Möglichkeit war das Objekt auf einer kleinen Mauer zu verankern, von wo man über die Stadt blickt. Der Radius von fünf Metern als «Verankerungsraum» ist eine technische Restriktion, die bei der Konzeption nie ausser Acht gelassen werden darf, und frühzeitig am Ort der physischen Verankerung überprüft werden muss.
Anker in der Ferne unmöglich |
Virtuelles Artefakt auf der kleinen Mauer verankern |
Hinsichtlich der Sehenswürdigkeit «Willem. J. Holsboer» in der fahrenden Schatzalpbahn, kam das Team nach vielen Versuchen zum Schluss, dass sich in einem fortbewegendem Transportmittel keine Anker definieren lassen; die Koordinaten ändern sich kontinuierlich und die Punktwolken allein reichen nicht aus. Folglich muss der Nutzende bei dieser Station das Artefakt selbst platzieren.
Dieses Kriterium unterscheidet sich von dem Faktor «Wetterbedingungen», obwohl die damit verbundenen Problematiken die gleichen sind: die Nicht-Wiedererkennung durch die App, wenn Punktwolken und reale Umgebung nicht mehr übereinstimmen. Mobiliar und lose Gegenstände sind nicht fest fixiert, insbesondere in öffentlichen Räumen wie Restaurants und dergleichen.
So wurde das Artefakt «Davoser Schlitten» an den Holzfiguren der Bündner Maskottchen, den Steinböcken Gian und Giachen, vor dem Eingang der Sporthalle stehend, verankert. Abklärungen mit der Informationsstelle des Sportzentrums Davos ergaben eine kleine Unsicherheit, dass die beiden Figuren nicht permanent aufgestellt bleiben würden. Es ist bewusst zu überlegen, ob man ein derartiges Risiko eingehen will, oder nicht, und wie im Falle einer Umfeldveränderung reagiert werden sollte: Das Artefakt und gegebenenfalls auch die Route müssten angepasst, das Artefakt entfernt oder es durch ein Neues ersetzt werden.
Gian und Giachen, Sportzentrum Davos – Informationsstelle |
Schon bald entstand die Idee, den berühmten «Spengler Cup» (1922 vom berühmten Arzt Carl Spengler initiiert), eines der bedeutendsten Eishockeyturniere für Vereinsmannschaften, in die Route «Promenade» aufzunehmen, um die App-Nutzenden zur Vaillant Arena, dem Eisstadion, zu führen.
Die Annahme, der Originalpokal müsste sich im Wintersportmuseum Davos befinden, stellte sich als ein Irrtum heraus (was angenommen wurde, da dies so im Katalog der Ausstellung «Europa auf Kur» geschrieben stand). Die Möglichkeit mittels Fotos ein 3D-Modell des Pokals zu machen, scheiterte. Stattdessen wurde auf Basis einer 2D Fotografie ein 3D-Modell entwickelt, wobei die Hinterseite eine Kopie der Vorderseite ist, ohne Beschriftung.
Spengler Cup Vorderseite |
Spengler Cup Rückseite |
Am Eingang des Kongresszentrums kommt der virtuelle Hauswart zu Wort; aus einer inoffiziellen Perspektive berichtet er über die Entstehungsgeschichte des Kongresszentrums. Der Hauswart soll neben der bronzenen Plakette stehen. Am Tag des Ankersetzens war ein Fahrrad davor angekettet. Diese Situation ist problematisch, sowohl für die Verankerung (Punkto Erkennung von Flächen) als auch für die Erstellung des Standbildes für die Anleitung. Das Originalfoto wurde dementsprechend in Photoshop rudimentär bearbeitet. Eine bessere Retusche wäre kostspieliger gewesen.
Kongresszentrum Originalbild |
Kongresszentrum retuschiert |